Claude Brunier-Coulin

Übersicht

L’HOMME PÉCHEUR (Mann als Sünder)

Übersicht veröffentlicht im Golias Magazine n°162-163, Juni 2015, pp. 129-135,.

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Wie Rom, hat sich das Werk von Claude Brunier-Coulin nicht in einem Tag erbaut: das kann vielleicht die Seltenheit seiner Publikationen erklären. Es liegt daran, dass das Stoff seiner Forschungen nicht um die Diskussion einer theologischen These handelt, aber um „das theologische Fakt selbst“ (S. 25), wie er es in seiner Einleitung erklärt, und hier besonders um den bekannten Ausdruck, von Luther, „simul justus et peccator“, mit der Kategorien des Imaginales verbunden ist; diese Kategorie stammt aus der iranischen Theologie des 12. Jahrhunderts, und ist von Ibn Arabi und Schihab al-Din Yahya Suhrawardi vertretet.

Als guter Dialektiker, baut der Autor seinen Gedanken in drei Schritten auf, wie die drei Teile seines Buches. In etwa 700 Seiten, und mit vielen Verweisen, deren die eindrucksvolle Endbibliographie die Zeugin ist, wagt er sich wie ein Pionier in ein unbekanntes Land, das zwei verschiedenen Welten versmischt: zu den Kategorien der von Platon und Augustinus inspirierten Scholastik fügt er die Intuitionen der persischen Mystiker hinzu, die durch die großen Arbeit der großen französische Islamologie-Schule entdecken wurden, mit Louis Massignon und -vor allem- seinem Student Henry Corbin. Die Schwierigkeit dieses Buches kommt aus dieser Anordnung zwischen zwei Welten, zwei Weltanschauungen, zwischen auch verschiedenen Typen von Wortschatz, von dem Klassikerstem für einen westlichen Leser bis zum Esoteriksten, und mit dem spezifischen Wortschatz des Protestantischen Theologen Karl Barth, wovon der Autor sich reichlich inspiriert.

Der erste Teil beginnt mit einem langen Kapitel von mehr als ein hundert Seiten, der die zeitgenössische Versuchung, der tragischen Lage des Menschen „gleichzeitig gerecht und Sünder“ zu entgehen, durch die Ausarbeitung einer Rede über ein Objekt, dass sie paradoxerweise nicht wünscht, anzusprechen. Claude Brunier-Coulin geht die verschiedenen Dekonstruktionen durch, jene der Philosophie durch die Behauptung der „Immanenztranszendenz“ (S. 40), jene der Sprache durch die Neutralisierung des Genus, jene der Dreieinigkeit durch die Reduzierung des religiöse Bewusstseins in philosophischen und historischen Bewusstseinen, usw. Als die Philosophie „keine Substanz mehr hat, nichts mehr zu sagen hat“ (S. 61), wird alles ein Objekt für die historisch-kritischen Wissenschaften (mitsamt der Theologie), von dem biblischen Text zu den Ereignisse des nicht mehr wahren Alltags, die als einfältige „Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten einer Serie“ betrachtet werden (S. 71). Der ganze Alltag wird durch diese Konzeption durcheinander gebracht. Er wird unreal und wird der Schauplatz von aufeinander folgender, häufiger und wiederkehrender Abnormalitäten (S. 98), die das Individuum sowohl als auch die Gruppe treffen; der Mensch entgeht dieser Lage durch die Veränderung –mitsamt der extremen Abnormalität des Todes- in einer großen umfassenden Lage. Gegen diese zyklische Vorstellung des Alltages bestätigt der Autor eine lineare Heilgeschichte nochmal, in der der Mensch die Umwandlung seiner Wut, die Angst von Gott, erlebt, bis Jesus’ Wahl und dem Sieg gegen Satan, bis –hier weißt der Theologe, dass er Stellung zu einem den größten und heikelsten Problemen bezieht- dass, „Adam-Sünder in Christus aufhört, zu existieren“ (S. 177). Wenn der Mensch als Sünder nur mit einer umfassender und zyklischen Weltanschauung sich beruhigen kann, wie kann er also Anhaltspunkte haben? Claude Brunier-Coulin führt verschiede mögliche Lagen auf, von phänomenologischer Unterstützung bis zur Subversion der Philosophie durch das „Christus“ Ereignis, schon von Paulus ausgedrückt und von Augustinus übernommen (S. 136-137). Für denjenigen, der einen Glaubensakt stellt und die aktuelle „Mensch als Sünder“-Situation erkennt, ist es nötig, kennenzulernen und zu verstehen, das heißt, in Wörter gründen, was einer im Ritus erlebt hat: „Die Theologie ist daher potenziell im Glauben enthalten“ (S. 143).

Das regelmäßige Aussprechen von „Mensch als Sünder“ durch diese Prolegomena wiederholt die Doppeleinleitung des Buches, wie das Märchen von Andersen Das hässliche Entlein, das ein Mythos des heutigen menschlichen Daseins geworden ist. Die Frage, die der Leser während seines Lesens sich stellt, wird plötzlich von dem Theologen gestellt: „Was ist der „Mensch als Sünder“?“ (S. 166), weil es kann keinen einfache „Mensch“ geben, außer mit Abstraktion, als Anfang, als originelle „Lage“, als ewige und inaktualisierte Zukunft.

Um auf dieser fundamentalen Frage eine Antwort zu geben, führt Claude Brunier-Coulin den Hauptbegriff seines Buches ein: das Imaginal. Er stellt vor, „eine Imaginaltheologie umzusetzen“, mit „der Fantasie als eine Fähigkeit, auf die Realität zuzugreifen“, „weil das Imaginal ein Lebensschema ist“, „der Ort, wo die Seele und die Wirklichkeit sich treffen“ (S. 178); hier werden die Wahrheit und die Fiktion versöhnt, das heißt die Gegenteile, die eine rationale Theologie, die dem Wissensschema folgt, nicht einigen kann, im Namen des Non-Kontradiktionsprinzip. Die imaginale Welt verwandelt die Gegenteilen ins Komplementären; sie ist eine coincidentia oppositorum. Das Imaginal eingreift dann als eine Welt mit vollen Rechten zwischen dem Wahrnehmbaren und dem Verständlichen ein; es könnte an die scholastische Kategorie des „Innensinns“ erinnern lassen, hätte der Autor eine unerlässliche Geistdimension nicht hinzugefügt: das Imaginal ist der Ort, wo die Seele Gott erlebt, in dem die Realität mit dem Geistlichen kommuniziert. In der Problematik des „Menschen als Sünder“ in Erwartung seiner Rechtfertigung, und insbesondere des Menschen simul justus et peccator, hässliches Entlein und weißer Schwann, ist das Imaginal letztendlich die einzige Welt, die verstehen kann, was die Vernunft als entgegengesetzt wahrnimmt.

Henry Corbin schreibt: „Die Funktion des mundus imaginalis und den imaginalen Formen wird durch ihre Mittlere- und Vermittlersposition zwischen der verständlichen Welt und der wahrnehmbaren Welt definiert. Einerseits macht sie die wahrnehmbaren Formen immateriell, anderseits macht sie die verständlichen Formen imaginal, und gibt ihnen Figur und Dimension. Die imaginale Welt symbolisiert einerseits mit der wahrnehmbaren Formen, anderseits mit der verständlichen Formen. Auf Anhieb verpflichtet diese mittlere Situation die fantasievolle Macht zu einer unglaublichen Disziplin vor, wo sie hat sich in „Fantasie“ aubgebaut, wo sie nur was Eingebildetes, Unwirkliches absondert, wo sie von allen Schamlosen fähig ist. („Präludium. Für eine Charta des Imaginales“, in Corps spirituel et Terre céleste, 1978). Das Imaginal wird also in der Realität eingefügt: das Erste gehört nur dem einzelnen Subjekt, weil die Zweite ist dem „Ich“ und dem Anderen gemeinsam. Claude Brunier-Coulin vergleicht die Kategorisierung Imaginal/Realität, mit den „Kategorisierungen Paulus/Jakobus, oder Entscheidung/Absicht, Gerechter/Sünder, Schöpfer/Schöpfung“ (S. 267). Wir verstehen die Parallele zwischen „Imaginal“ und „Gerechter“ einerseits, „Reales“ und „Sünder“ anderseits, als der Eine der Spiegel des Anderen wird. Der Justizbegriff, der so delikat wahrzunehmen ist, kann nur mit der Kategorie des Imaginales begriffen werden, nur mit dem Beitrag –mit einem psychoanalytischen Wortschatz- eines „symbolischen Materiales“; die imaginale Welt wird also Prinzip, ja sogar hermeneutische Muster, für Luthers Formel.

Das zweite Buch stellt präzise die Frage des Verstehensmusters der Rechtfertigung vor. Claude Brunier-Coulin wird Student von Henry Corbin, indem er den iranischen Begriff des Imaginales, das er in Frankreich eingeführt hat, wiedernimmt, und indem er einen Wortschatz von Martin Heidegger (Corbin war sein erster Übersetzer in Frankreich) auswählt. Die große Problematik des zweiten Buches, die das Rückenmark des Buches ist, liegt in einem hermeneutische Modellieren, das nicht „epochal“ (Heidegger) sein soll, das heißt, vorübergehend im Vollsinn des Wortes. Die Antwort, die der Autoren vorschlägt, zu erforschen, ist jedoch nicht diejenige des deutschen Philosophen, aber diejenige des Theologen Karl Barth. Es wird kein dogmatische Referat, da Debatte zwischen Katholiken und Protestanten sinnlos geworden sind (S. 287-310), aber die Bearbeitung der Intuitionen auf die Rechtfertigung des großen Protestanten Denkers, durch das Spiegelprisma, das die reale Welt mit ihrer effektiven Hauptinterpretation konfrontiert: die imaginale Welt. Wenn Gott zeigt in der Phenomänawelt, wenn die Theophanie ist realnah, scheint die Fantasie notwendig zu sein, um dieses göttliche Gesichtspunkt in den Dingen und Wesen wahrzunehmen. Also können wir in Mensch als Sünder die Möglichkeit –und sogar die Wirklichkeit, da die Grenze mit dem Imaginal nicht undurchdringlich ist– seiner Rechtfertigung zu entdecken…

Obwohl Karl Barth die Leiterverweisung ist, liegt die Schwierigkeit des Nachdenkens in den von dem Autor verwendeten breiten Verweisungen, die, wie ich es schon gesagt habe, verschiedenen Wortschätzen entsprechen. Aber die Spiegelthematik passt sich genau an einer Spiegelstruktur, mit wiederholenden Fragen: Martin Luther und Jean-Paul Sartre antworten sich einander, so wie Hans Küng und Paul O’Callaghan, James Joyce und Amélie Nothomb, Lewis Caroll und Louis Aragon, Meister Eckhart und Jacob Boehme… Die Ambivalenz der Formel simul justus et peccator stellt zuerst nicht mehr die Frage des Dualismus, aber die Frage der Sprache, jedes Elementes (justus und peccator) und der Bindenkonjunction. Es erklärt, dass die Frage der Rechtfertigung verschiedenen Aspekten durch die Jahrhunderten genommen hat, mit zuerst einer Betonung auf der Frage der Justiz (Vergil) dann auf der Justiz in Bezug auf sich selbst (Luther), und letztlich auf der persönlichen Auswahl, das heißt, Wirkung Gottes auf diesem „selbst“ (Barth).

Der Spiegel betont und kristallisiert eine Reihe von unterschiedlichen Meinungen, die aus Philosophie, Theologie und Literatur kommen. Der Autor sammelt sie, um sie letztlich dem Nachdenken Karl Barths gegenüberzustellen und seine eigene Antwort zu geben. Der Spiegel ist der Gewissensort, von Angesicht zu Angesicht, wo der Mensch sich sieht, um sich durch das Bild rechtfertigt anzuerkennen: die Vorstellung kommt vor dem Denken und die Spiegelung kommt vor dem Nachdenken. Die Realität findet in dem Imaginal die Möglichkeit des Verständliches: „Ich sehe mich, deshalb bin ich“ (S. 377). Solche eine Erfahrung kommt nicht ohne Prüfung, weil der Spiegel das Instrument der Ambivalenz bleibt, der das Gleiche zeigt, indem er das Andere bleibt und die „atemberaubende Trennung von sich selbst“ (S. 406) offenbart. Es führt ein, wie Jorge Luis Borgès es gesagt hat (ein Argentinischer Schriftsteller war er, für wen der Spiegel eine zentrale Rolle spielte), „das unmittelbare Bevorstehen einer Offenbar, das nicht geschieht“. Aber nicht nur offenbart der Spiegel das Ich und auf Distanz rückt er es, sondern auch ist er die kaum spürbare Grenze, die wir ständig überschreiten, wie Alice, wenn sie im Wohnzimmer einschläft. Warum gefallen die Fiktionswerke uns so sehr? Weil sie etwas so rein irreales haben, oder weil sie scheinen, nicht so fern von uns zu sein, während sie eine Art Magie einführen? Die Fiktion und die Realität sind wie überlappend, die Eine dient der Andere als Rahmen, und umgekehrt, und die Andere nährt die Eine, und umgekehrt. Wie das Imaginal die Realität und ihre Wunsche besser offenbart als sie selbst würde, wie ein Schriftsteller vielmehr ihn selbst enthüllt, indem er ein Buch schreibt, so offenbart unsere Spiegelung mehr über uns, als niemand anders es machen könnte.

Der Spiegel, als Metapher der Wahrnehmung (reale Welt) und des interrogativen Denkens (intellektuelle Welt), betrifft direkt unseren innigen Zusammenhang zwischen Anderen und sich selbst: er ist zwangsläufig interessant für die Theologie. Ist der Mensch nicht Abbild und Gleichnis Gottes? Ist Christus nicht Ebenbild des unsichtbaren Gottes? Gibt es nicht, im theologischen Akt, das Spiegelmuster, das dem Mensch erlaubt, seinen virtuellen Ursprungsort zu verstehen? „Karls Barths Theologie wird auf eine genaue Kenntnis der Beziehungen zwischen Menschen und Gott, und zwischen Gott und Menschen gegründet“ (S. 443). Karl Barth setzt sich also als der Theologe durch, der im Stande ist, den Spiegel als „theologisches Objekt“ auszubreiten, mit der asymmetrische Dialektik von Berufung Gottes und der menschlichen Antwort, mit dem Wort Gottes, das durch die Menschwerdung und die Predigt offenbart, aus der imaginalen Theophaniewelt und der realen Anthropomophismuswelt. Das verspiegelte Bild, weil es epiphanisch ist, weil es in Zusammenhang mit der göttlichen Berufung im Herzen der Realität ist, ist keine „Kopie der Realität“ sondern „die Kopie der Realitätsseele“, der Ort unserer potenziellen Vergötterung und nicht der Ort unseres Urteils, des endgültigen Strafurteils: „Wir sollen dann die Realität durch die Vermittlung des Spiegels kennen und interpretieren“ (S. 524). Es gibt eine gegenseitige Befragung zwischen der Realität und dem Bild, damit jede von den zwei Welten gut erfasst wird, für zutiefst eine gerechte Wiedervereinigung unseres richtigen „selbst“ in Gott, der kein Dualismus kennt: die Rechtfertigung wird in der imaginale Welt Thron des Gesetztes Gottes geäußert, aber ist paradoxerweise in Erfüllung in der realen Welt Sitz des Gesetztes der Sünde, erfüllt. Oder mit dem Einleitungsmärchen: das hässliche Entlein versteht, in der imaginalen Welt, dass er ein Schwann ist, in der realen Welt. Die initiale Trennung ist nur die Einleitung einer Entwicklung zur Befreiung, wie das jüdische Volk sie durch seine Wanderung durch die Wüste erlebt hat, von der Sklaverei in Ägypten bis der Unterbringung im gelobten Land.

Die Wahrnehmung der realen Welt –in ihrer vollen Wirklichkeit- kann nur durch den Spiegel des Imaginales stattfinden, so dass die Grenze manchmal greifbar, manchmal allegorisch, manchmal kaum spürbar aussieht. Die Durchquerung sieht der Grammatikkontroverse ähnlich aus, die die zwei Welten in dem ersten Brief an die Korinther einigt (7, 29-31): ist es ein als ob, ein und wenn, oder ein wenn nicht? Karl Barth antwortet durch eine Identifizierung der zwei Welten: wie auch das hässliche Entlein wirklich ein Schwann ist, als er sich als Schwann sieht, so ist der Mensch „immanent“, „vollständig“, „positiv“ gerechtfertigt, als er sich gerecht sieht (S. 568). Sich rechtfertig zu sehen gerechtfertigt, weil es ist eine Öffnung auf die Glaube, laut der Protestanten Theologe. Das Imaginal spiegelt nicht passiv die Realität aber wird –als theophanischer Ort- wirkungsvolles Wort über die Wirklichkeit selbst: wer sich in Spiegel Gottes nicht sieht, wird nicht gerechtfertigt. So geschiet die Befreiung in drei Schritten, gemäß einer dialektischen dreiteiligen Bewegung, deren Autor der Schüler wird: reale Welt oder „Wechsel des Blicks“, Spiegelung der realen und imaginalen Welten oder „Durchquerung des Spiegels“, und Umwandlung der Realität durch das Imaginal oder „Glasbrecher“ (S. 628).

In der entscheidenden Anwendung der Rechtfertigung, ist das „Angesicht zu Angesicht auch ein menschliches Angesicht zu einem göttlichen Angesicht“, denn das Enthüllen führt zu der Möglichkeit des Glaubensakts, zu der Anerkennung des Zustands „simul justus et peccator“ zu sein, nicht in einem irreparablen Widerstand, aber durch diese verspiegelte Gegenüberstellung, die uns in fine in der eschatologischen Perspektive stellt. Letztere fällt ins kein unbestimmte Zukunft aber unter dem „Akt Christus“ (Lubac), in einem „schon-da“ und einem ‚noch-nicht“, in einer unaufhörlich erneuten, aktualisierten Gegenwart durch die „Übergangskategorie“ des Spiegels, die den Schleier der Sünde endgültig zerreißt.